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Titel
Wege zum Pik Stalin. Sowjetische Alpinisten, 1928-1953


Autor(en)
Maurer, Eva
Erschienen
Zürich 2010: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Heinz Nauer, Universität Luzern

Die Forschung zur Geschichte des Alpinismus ist seit einiger Zeit sehr aktiv und befindet sich unübersehbar in einer Phase der Verwissenschaftlichung. Von fachhistorischer Seite erschienen in den letzten zehn, fünfzehn Jahren ein grosse Zahl Publikationen zum Thema. Die meisten Studien sind dabei national ausgerichtet und widmen sich dem britischen, deutsch-österreichischen, schweizerischen, französischen, italienischen oder auch dem nordamerikanischen oder japanischen Alpinismus. Eine verlässliche Monografie zum sowjetischen Alpinismus hingegen suchte man bisher vergeblich. Eine solche hat nun Eva Maurer vorgelegt.

In ihrer bemerkenswerten sozialgeschichtlichen Studie «Wege zum Pik Stalin. Sowjetische Alpinisten, 1928–1953», der umfangreiches Quellenmaterial aus russischen Archiven zugrunde liegt, lenkt Maurer den Blick weg von diesen traditionellen «Alpinismus-Nationen» und hin zu den Praktiken der sowjetischen Bergsteiger im Kaukasus oder in den zentralasiatischen Gebirgsketten Pamir und Tienschan. Im ersten Teil der Studie beschreibt Maurer die Entstehung des sowjetischen Alpinismus als ein «Transferphänomen», als eine westeuropäische bürgerliche Praxis, die erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den russischen Raum gelangte (was nicht zwingend heissen muss, dass man in Russland vorher gar nicht auf Berge gestiegen wäre).

Ähnlich wie im Westen wurden auch im Osten bald Bergvereine gegründet und eine breite alpinistische «Selbstverständigungsliteratur» gedruckt. Der russländische Alpinismus sah sich zunächst durchaus in einer westlichen Tradition, und doch gab es auch gravierende Unterschiede, so eine von Maurers Schlussfolgerungen. Da im russischen Zarenreich vor dem Ersten Weltkrieg eine im Vergleich mit dem Westen nur schmale Zivilbevölkerung existierte, blieb der Alpinismus zunächst eine quantitativ kleine Bewegung. Auch standen wissenschaftliche Diskurse stärker im Vordergrund als dies zu dieser Zeit im Westen der Fall war, wo eher militärisch-kompetitiv geprägte Diskurse das Feld dominierten.

Mit der Oktoberrevolution von 1917 geriet diese alte Form des Alpinismus, die man als elitäre, bürgerliche Praxis wahrnahm, in Misskredit. Eine neue Identität war gefragt, die besser zum bolschewistischen Grossprojekt passte. Im zweiten, weit umfangreicheren Teil des Buches geht es in sechs weitgehend der Chronologie folgenden Kapiteln um diese «sich wandelnde oft auch mehrdeutige Selbstdarstellung» (S. 76) der sowjetischen Alpinisten. Auf den Versuch der 1920er und beginnenden 1930er Jahre einen «proletarischen Alpinismus» zu kreieren folgte während dem Zweiten Weltkrieg auch in der alpinistischen Szene eine Phase des Terrors und der Militarisierung, bevor sich in der Nachkriegszeit der sowjetische Alpinismus entpolitisierte und sich ein neues Gefühl von Freizeit und Sport durchzusetzen begann.

Besonderes Gewicht legt Maurer auf die «agency» der Bergsteiger, die eben nicht nur Befehlsempfänger des Regimes, sondern auch Handelnde in eigener Sache waren, die versuchten sich verändernden Rahmenbedingungen anzupassen und sich so «Orte im System» (S. 76) zu schaffen. Eine der Hauptthesen des Buchs besagt, dass sowjetische Alpinisten sowohl durch ihre Tätigkeit am Berg, als auch durch die Verschriftlichung dieser Tätigkeiten, aktiv dazu beitrugen, eine durch das stalinistische System geprägte symbolische Landkarte auszugestalten und so auch fernab der städtischen Machtzentren gelegene Landschaften in sowjetische Kontexte einzuschreiben. Besonders anschaulich wird diese These durch die Geschichte des «Pik Stalin». Der Buchtitel ist gut gewählt: Dieser Berg hat einiges zu erzählen und seine Geschichte ist so etwas wie ein Leitfaden für die Studie. Der in den Augen der Sowjets namenlose im zentralasiatischen Pamirgebirge liegende Pik Stalin galt mit 7495 Metern als der höchste Berg der Sowjetunion. Er wurde erst 1932 entdeckt und. benannt. Berggipfel nach Grössen der bolschewistischen Partei zu taufen war zu dieser Zeit eine nicht unübliche Praxis, wobei die Initiative dafür oft von den Alpinisten selbst ausging. So entstand bald ein ganzes symbolisches «Gipfelpantheon» (S. 128). Politische Hierarchien wurden dabei in die Vertikale übertragen. Neben dem Pik Stalin gab es auch einen Pik Lenin (7134 Meter), einen Pik Molotov (6852 Meter) oder einen Pik Kalinin (6509 Meter).

Wie Alpinisten anderswo liessen auch sowjetische Bergsteiger auf den Gipfeln physische Symbolträger zurück. Auf dem Pik Lenin etwa wurde 1934 eine Lenin-Büste installiert. Auf den Pik Stalin trugen Alpinisten im selben Jahr eine 20 Kilogramm schwere automatische Funk- und Wetterstation. Ein Objekt, «das meisterhaft sowjetische Fantasien der Raum- und Technikbeherrschung verband », so Maurer (S. 128). Nur vier Jahre bevor im Westen die vier Erstbesteiger der Eigernordwand medial als Helden gefeiert wurden, brachte die Besteigung des Pik Stalin allerdings keine Einzelhelden hervor. Sowjetische Helden sollten die Natur mithilfe sowjetischer Technik besiegen – und nicht mit blosser Muskelkraft. Das Rampenlicht fiel auf andere, auf Raumfahrer oder Polarforscher zum Beispiel.

Mit derselben Leichtigkeit, wie er einst benannt worden war, wurde der zwischenzeitlich namenlose Pik Stalin 1962 neun Jahre nach dem Tod Josef Stalins in «Pik des Kommunismus» umbenannt. Man ahnt es: Auch dieser Name ist heute nur noch Erinnerung. Seit 1998 heisst der ehemalige Pik Stalin «Pik Ismoil Somoni», benannt nach einem Samanidenführer aus dem 9./10. Jahrhundert, der im heutigen Tadschikistan als «Vater der Nation» gepriesen wird. Am Buch mag man lediglich Details kritisieren: Für den nicht mit dem sowjetischen Vereins- und Verwaltungswesen vertrauten Leser mag es nicht immer ganz leicht sein, den von der Autorin detailreich geschilderten Entwicklungssträngen des sowjetischen Alpinismus zu folgen. Und ja, man merkt dem ansonsten gut geschriebenen Buch hin und wieder an, dass es aus einer Dissertation hervorgegangen ist. Auch ist das Ende des Untersuchungszeitraum, das die Autorin mit 1953 und dem Tod Josef Stalins angesetzt hat etwas abrupt und man hätte gerne einen Ausblick auf die Jahre danach gehabt. Insgesamt ist «Wege zum Pik Stalin» aber ein beeindruckendes Buch. Eva Maurer ist es gelungen, die fachhistorische Forschung zur Geschichte des Alpinismus um eine neue Dimension zu erweitern.

Zitierweise:
Heinz Nauer: Rezension zu: Eva Maurer: Wege zum Pik Stalin. Sowjetische Alpinisten, 1928–1953. Zürich, Chronos Verlag, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 515-517

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 515-517

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